Jörg Stiehler im Gespräch mit Schülern
Jörg Stiehler im Gespräch mit Schülern

Der Geschichtskurs des S3 von Frau Gehrmann-Schulte war am 11. November im Landesinstitut für Lehrerbildung, um an einer Zeitzeugenbefragung zur DDR-Vergangenheit unseres Landes teilzunehmen. Helena Ritterpusch schildert in dem folgenden Artikel, was die Zeitzeugen berichteten, und welche Eindrücke dies bei den anwesenden Schülerinnen und Schülern hinterließ.

In die Unwissenheit, die im Publikum lag, über die junge Vergangenheit eines geteilten Deutschlands mischte sich nun nach und nach wachsendes Erstaunen. Viele Schüler meiner Generation hielten bisher das Dritte Reich für das grausamste und unmenschlichste Ereignis deutscher, wenn nicht sogar weltlicher Historie - was uns auch von Kind an gelehrt wird; doch vielen war nicht bewusst, in was für einer unterdrückenden Gesellschaft ggf. unsere Großeltern und Eltern danach in der DDR lebten.

Evelyn Zupke (geb. 1962), Oppositionelle in der DDR, und Jörg Stiehler (geboren 1973), welcher als Flüchtling aus der SED-Diktatur in die Bundesrepublik Deutschland gelang, trugen zu einer intensiven Aufklärung über ein Leben in Angst und Misstrauen bei. Noch nie habe ich einen Raum voll von Teenagern erlebt, die so still und gespannt dem Geschehen folgten.

Zunächst moderierte ein Vertreter der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur das Interview mit den beiden anwesenden Zeitzeugen, und bald ergab sich der Eindruck, als verspürten alle Anwesenden einen kalten Schauer des Entsetzens. Die Erfahrungsberichte von Evelyn Zupke gaben jedem einen tiefen Einblick in die gefährliche Arbeit einer Frau, die sich gegen das bestehende System auflehnte. Wie Jörg Stiehler integrierte sie sich als junges Mädchen in die gesellschaftliche Ordnung: Sie besuchte diverse sozialistische „Freizeitgruppen“ bis hin zur FDJ. Anfangs stellte sie nie in Frage, aus welchem Grund sie mit ihren Freunden endlos lange Listen als Wandzeitungen erstellen sollte, die aufzeigen mussten, was alles großartig an der DDR ist. Doch als sie begann, in der erweiterten Oberschule mitzuerleben, wie Mitschüler von Lehrern schikaniert wurden, weil sie ein Leben an der Waffe, also als Offizier, nicht als Berufswunsch sahen, kamen viele Zweifel auf und auch Fragen, die dazu führten, dass sie nicht studieren durfte. Der sozialistische Kämpfer für die Volksdemokratie und gegen die kapitalistischen Faschisten bildete den Idealtypus für einen jungen Mann in der SED-Diktatur. Besonders Jörg Stiehler bekam dies zu spüren, wenn er vor jedem Unterricht mit seinen Klassenkameraden Spalier stehen musste und im militärischen Gleichklang den nächsten Unterricht ausrief. Aber nicht nur das. Kinder lernten schon in jungen Jahren Fähigkeiten, welche sie später „wunderbar“ im Alltag anwenden konnten. An wichtigster Stelle war das Denunzieren von unangepasstem Verhalten. Eine Gesellschaft, in der jeder Mitbürger auf Schritt und Tritt verfolgt, beobachtet und verraten wurde, konnte keiner im Publikum sich in seinen entferntesten Fantasien vorstellen. Doch sie existierte, und zwar vor nicht allzu langer Zeit.

Und wie sah es aus, wenn man sich wehrte? Evelyn Zupke konnte uns auch diese Frage beantworten. Von einem kleinen Ort auf Rügen trieb es sie in die größte Stadt der DDR, nach Ost-Berlin. Nun agierte sie als Oppositionelle im Weißenseer Friedenskreis mit zahlreichen Mitgliedern gegen das System. Handgestempelte Flugblätter wurden verteilt und Versammlungen organisiert. Die Mitglieder des Kreises mussten jederzeit fürchten, lebenslang in Hohenschönhausen eingesperrt zu werden. Untereinander wurden Vollmachten als Erziehungsbeauftragte unterschrieben, um wenigstens seine Kinder in Sicherheit zu wissen. Ironischerweise waren auch die zu Bestrafenden in der kommunistischen Diktatur alle gleich. Ob Familienvater und Alleinverdiener oder alleinerziehende Mutter, niemand war vor den Augen der Stasi sicher. Doch das hinderte Evelyn Zupke nicht, wohl eine der wichtigsten Vorlagen zu liefern, um den Zusammenbruch des SED Regimes mit herbeizuführen. Der Plan, die manipulierten Kommunalwahlen vom Mai 1989 nachzuweisen, ging auf. Es überraschte zwar niemanden, jedoch gab es nun handfeste Beweise, dass die DDR-Regierung keinerlei Legitimierung besaß.
Eine Schülerin im Publikum bezeichnete Evelyn Zupke später als Heldin. Die blonde Frau in den 50ern konnte dies jedoch nur zurückweisen, mit den Worten, dass sie alles nur getan habe, weil sie noch nicht wusste, dass für sie und weitere Mitglieder bereits Pläne vorlagen, sie in ein Arbeitslager zu deportieren. Mit einem kleinen Kind an der Seite ging sie ein solches Risiko ein, um für die Freiheit zu kämpfen.

Die Freiheit ergriffen Jörg Stiehler und seine Mutter bereits vor dem Mauerfall, aus Dresden über Ungarn und Österreich. Als Jugendlicher wuchs er damals mit einem ständigen Misstrauen gegenüber Freunden und Familie auf. Nicht einmal kurz vor der Flucht konnten Familienangehörige von Ihren Plänen erfahren. Nicht lange nach seiner Ankunft in der BRD fiel die Mauer, es war wie ein unwirkliches Wunder.

Die beiden Zeitzeugen entließen uns mit ihren Erfahrungen über ein Leben im Gefängnis mit Missgunst und Verrat und mit dem Gefühl, dass die Menschheit nichts aus vergangenen Ereignissen lernt. Das Erlernen von Geschichte hat nicht nur zur Wirkung, dass es aufklärt, sondern es gilt auch als Warnung für die Zukunft.