Viel Schnee für eine ordentliche Schneeballschlacht, eine Mütze voll Schlaf für besonders müde Mitschüler und gute Büchereinbände, damit nicht alle Papiere herumflattern: Das waren die Neujahrswünsche, die die Herausgeber von „Der Primaner“, der Schülerzeitschrift am Johanneum, im Januar 1762 für ihre Leser bereit hielten. Im Rahmen der Vortragsreihe Forum Johanneum stellte Junior-Professorin Dr. Misia Doms am vergangenen Dienstag die Gattung der Moralischen Wochenschriften vor, die zur Zeit der Aufklärung im gesamten europäischen Raum sehr beliebt waren und auf die ethische Erziehung der Leserschaft sowie die Vermittlung sozialer Kompetenzen abzielten.
Die Germanistin von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf forscht gemeinsam mit einer Gruppe von Literaturwissenschaftlern aus 14 europäischen Ländern zu dieser Gattung und möchte die Zusammenarbeit mit dem Johanneum im Rahmen eines bereits beantragten EU-Förderprojekts gern vertiefen. Denn zwei besonders interessante Titel haben direkt oder indirekt mit unserer Schule zu tun: Neben der bereits genannten Schülerzeitschrift auch „Der Patriot“, herausgegeben von der Hamburger Patriotischen Gesellschaft. Dieses Blatt hatte neben dem berühmten Hamburger Schriftsteller Barthold Heinrich Brockes einen weiteren Hauptmitarbeiter, nämlich Johann Albert Fabricius, der von 1708-1711 Rektor des Johanneums gewesen war. So kam es, dass Professor Doms ihren sehr lebendigen Vortrag über seine Beiträge unter seinen gestrengen Augen hielt, denn Fabricius’ Büste steht mitten in der Ehrenhalle.
156 Ausgaben, sogenannte Stücke, des „Patrioten“ erschienen in der Zeit von 1724-1726, jede zwischen 4 und 16 Seiten stark. Herausgeber war wie in allen moralischen Wochenschriften eine charakterlich ausgefeilte fiktive Figur, in diesem Falle eben der namensgebende Patriot, der sich – anders als es der Name heutzutage vermuten lässt – vor allem Weltoffenheit und Toleranz auf die Fahnen geschrieben hatte. Auf unterhaltsame Weise gab er seinen Lesern, die zur gehobenen Bürgerschicht gehörten und unter denen auch zahlreiche Frauen waren, Ratschläge für Ehe-, Erziehungs-, Ernährungs- und Modefragen, für die Vorbereitung auf einen guten Tod, die Freizeitgestaltung, den Umgang mit Geld, die Wahl der richtigen Lektüre usw. All dies tat er mit der Maßgabe, seine Leser zugleich auch zu unterhalten.
Der für die Gattung typische ausgeprägte regionale Bezug zeigt sich immer wieder, so etwa im 6. Stück, wo die zänkischen Hamburger Ehefrauen satirisch in Schutz genommen werden – sie könnten ja nichts für ihr Verhalten, litten sie doch unter der physischen Krankheit der Hysterie, wird da ein ebenfalls fiktiver Freund des Herausgebers zitiert. Ein gutes Bespiel, dass es den moralischen Wochenschriften nicht um Klatsch und Tratsch ging, sondern um das Aufspüren von Lastern und Tugenden.
Letztere will der „Patriot“ beispielsweise im 23. Stück vermitteln. Er beschreibt in epischer Breite einen Spaziergang, den er im Traum an einem locus amoenus, einem lieblichen Ort, habe. Durch diese idylische Landschaft ziehen sich Gewässer mit Gondeln und Schwänen, mit festen und schwimmenden Inseln. Wieder erwacht, berichtet der „Patriot“ einem Freund davon, der zunächst vermutet, es könne sich um Paris, London oder Rom handeln. Ein echter Spaziergang überzeugt die beiden jedoch davon, dass die Hamburger Wallanlagen die geträumte Landschaft gewesen sein müssen – und den Leser, dass jeder in seiner unmittelbaren Umgebung einen locus amoenus finden könne, wenn er denn nur die Augen offen halte und bereit sei, solche Schönheiten zu entdecken.
Ein wenig anders lag der Schwerpunkt beim Primaner, der in den Jahren 1761 und 1762 in insgesamt vier Quartalen erschien und zunächst handschriftlich verbreitet wurde. Erhalten ist leider nur ein gedrucktes Quartal, nämlich das vierte, dass ein zeitgenössischer Verlag als gebundenes Exemplar vertrieben hatte. Professor Doms hatte sich vor dem Vortrag bereits einen ganzen Nachmittag mit unserem Bibliothekar Herrn Schröder auf die Suche gemacht, um die anderen drei Quartale in der Hauptbibliothek aufzuspüren. Bisher leider vergeblich, doch: “Ich gebe nicht auf!“, bekräftigte sie am Abend.
Anders als wahrscheinlich heutige Schülerzeitschriften hatte auch „Der Primaner“ wie alle Wochenschriften das erklärte Ziel, seine Leser moralisch zu erziehen – so findet sich etwa im 4. Stück der Gastbetrag eines Lehrers, der die Schülerschaft dafür tadelt, dass sie sich der morgendlichen Bibellektüre mit allen möglichen Ausreden zu entziehen versuche.
In einem anderen Stück wird vor den besonderen Gefahren gewarnt, die jungen Männern im Leben drohen, allen voran dem Glücksspiel und dem Atheismus. Das pädagogische Anliegen der Verfasser, Johann Joachim Eschenburg und Esdras Heinrich Mutzenbecher, wurde allerdings nicht immer so streng durchgehalten, wie es bei diesen Beispielen zunächst scheint. Immer wieder finden sich ironische Brechungen und die eingangs zitierte Neujahrsausgabe schließt beispielsweise mit dem Rat, das Vergnügen nicht zu kurz kommen zu lassen und Wein und Billard zu genießen, anstatt„sich über den Büchern zum Klotze zu studieren“. So war nach dem vergnüglichen Vortrag von Frau Prof. Doms eines klar: Moralische Wochenschriften sind alles andere als ein trockenes Thema.
Text: Ulrike Schmitz
Fotos: Ivo Schünemann