Ein Hamburg, umgrenzt von Wallanlagen, eine Stadt mit wenigen Toren, aber gleichzeitig selbst ein Tor zur Welt, Hamburg als kulturelles Zentrum in einer Zeit, als die erste Sparkasse eröffnet wurde, als Eppendorf noch Ziel eines Tagesausfluges ins Grüne war, als am Johanneum noch ausschließlich Jungen Eloquenz auf dem Stundenplan hatten - das ist Prof. Almut Spaldings "middle earth", der sich die Sprachprofessorin und ihr Ehemann Prof. Paul S. Spalding, Religionsprofessor (beide Illinois College, USA), zwei Jahrzehnte mit Begeisterung und Akribie gewidmet haben. So lange brauchten sie für ihre zweibändige kritische Ausgabe The Account Books of the Reimarus Familiy of Hamburg, 1728-1780, die sie am 6. Juni in einer besonderen von der Universität Hamburg veranstalteten Buchvorstellung zusammen mit Prof. em. Franklin Kopitsch in unserer Aula präsentierten.
Nun sind die Fenster ins frühe moderne Europa und zur Aufklärung in Hamburg, die die Haushaltsbücher einer der führenden Hamburger Familien darstellen, geöffnet und bieten Forschungsfeld, wenn nicht Antworten auf viele Fragen vieler historischer Wissenschaften. In ihren Haushaltsbüchern verzeichneten der Wissenschaftler, Theologe und Philologe Hermann Samuel Reimarus und dessen Tochter Elise penibel jede finanzielle Aktion wie Turf and Tailors, Books and Beer. Alles, was in Mark, Schilling und Pfennig zu bemessen war - vom Jahrmarktbesuch bis zu der Beerdigung der Kinder, vom Schuh für den Diener bis zur Rente der Köchin, vom philosophischen Fachbuch bis zum Bierkrug - fand hier Eingang und bietet heute einen einzigartigen Einblick in die Organisation, die Bedürfnisse, Möglichkeiten und Beziehungen einer gebildeten Familie im 18. Jahrhundert.
Nach mühseligen Vokabellernen zu Küchengerätschaften vergangener Jahrhunderte, die überdies oft mehr als einen Namen trugen, und schwierigem Erschließen der vielfältigen sozialen Beziehungen der Familie über gesellschaftliche Stände und Landesgrenzen hinweg erzählen die Haushaltsbücher nun dank der Spalding-Forschung nicht nur faszinierende Alltagsgeschichte, sondern insbesondere auch Bürgertums- und Bildungsgeschichte.
Hermann Samuel Reimarus, selbst Schüler am Johanneum, war Rektor des Akademischen Gymnasiums, der an das Johanneum angegliederten voruniversitären Institution. Sein Schwiegervater war der hochgelehrte Johanneumsrektor Johann Albert Fabricius. Seine Tochter Margaretha Elisabeth wurde wegen ihrer besonderen Bildung als Salonnière der aufgeklärten Hamburger Gesellschaft gefeiert. Seine Söhne sollten sogar noch eine bessere, weil modernere und perspektivenreichere Bildung erhalten als die, die das Johanneum damals mit der Konzentration auf die Alten Sprachen bot.
Die mannigfaltigen Bezüge der Familie Reimarus zum Johanneum zeigte Frau Hose vor der Buchvorstellung dem - wegen des hochsommerlichen Wetters eher klein ausgefallenen - Publikum gern auf. Prof. em. Kopitsch machte einleitend deutlich, welchen bedeutenden Beitrag die Autoren der kritischen Ausgabe für die Forschungsarbeit geleistet haben. Hamburg sei in der Geschichtswissenschaft weltweit Forschungsthema, insbesondere in England und den USA. Prof. Almut Spalding, die selbst bereits ein Buch über Elise Reimarus (1735-1805) als The Muse of Hamburg geschrieben hat, und Prof. Paul S. Spalding konzentrierten sich in ihrer Buchvorstellung auf Englisch und Deutsch auf die Frage, warum heutzutage noch Haushaltsbücher des 18. Jahrhunderts von großem Wert seien. Sie boten mit großer Begeisterung und zum Vergnügen ihrer Zuhörer exemplarisch kleine und große Geschichten, die sich aus dem Alltagsdokument ablesen lassen: Dass Schuhe damals maximal zwei Monate hielten, der Sohn des hochgelehrten Hermann Samuel Reimarus zum 15. Geburtstag eine Drechslerbank bekam und ein Bierkrug im Reimarus-Haushalt Schnelle hieß, sind die Kuriositäten, die das Publikum amüsierten. Dass eine so bedeutende Familie wie die der Reimarer alle Ausgaben auf den Pfennig genau rechnete, soziale Leistungen für die 'kleinen Leute' in ihrem Haus übernahm und viele Kinder vor dem Erwachsenenalter durch Krankheit verlor, führte den Zuhörern die wirtschaftlich-soziale Situation der Zeit in eindrucksvoller Weise vor Augen. Nicht zuletzt verliehen die Spaldings ihrer Freude Ausdruck, die vielen Hürden bei der Erschließungsarbeit genommen zu haben und nun nach Vollendung ihr Werk an einem besonderen Ort, unserem Johanneum, vorstellen zu können.
Mit den sommerlich-heiteren Gesprächen und dem gemeinsamen Schmausen von hamburgischen Leckerbissen gestaltete sich die Veranstaltung des Fachbereichs Geschichte der Hamburger Universität am Ende als Feier dieser Vollendung. The Account Books gab es mit einem "only tonight"-Vorteilspreis quasi als Gastgeschenk. Um in Reimarus' Sprache zu sprechen: Die Rechnung ging auf.
Text: Anna Kropp